Die Fähre

Die Fähre braucht fünfzehn Minuten, um uns ans andere Ufer zu bringen. Während dieser Fahrt scheint die Zeit still zu stehen. Sie gönnt uns eine Pause, nimmt uns heraus aus dem Gerenne und Geschiebe, aus dem Drängeln und dem Verkehrsstau. Sie macht uns alle gleich, weil wir alle zugleich drüben ankommen. Die meisten sind – wie ich auch Berufspendler – die jeden Tag im Morgengrauen auf dem Schiff herumstehen und eingehüllt in die eigene Welt der Gedanken auf den See hinausstarren. Wir kennen uns nicht, aber wir sehen mehr von einander als wir uns eingestehen wollen. Wir kennen viele unsere Gewohnheiten und Vorlieben.

Die meisten gehen als erstes nach oben und kaufen sich im Bistrot einen Kaffee im Pappbecher. Für ein richtiges Frühstück reicht die Zeit nicht. Manche bleiben im Auto sitzen, dösen oder hören Radio. Wieder andere tigern unruhig herum. Es gibt einen, der dabei ständig etwas vor sich hin summt, was mich immer nervt, weil ich es am Morgen gerne ruhig habe. Ich stehe am liebsten hinten an der Reling und schaue zu, wie das goldene Licht der Morgensonne das Ufergrün mit schimmerndem Glanz überschüttet, wie der See erwacht und wie die Lichteinfälle wechseln. Staunend sehe ich die verschiedenen Schattierungen des Wassers, die Reflektionen von Himmel und Wolken und die flimmernden Lichtblitze. Ich beobachte die Blässhühner, die kurze bellende Laute von sich geben und emsig über das Wasser rudern. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich den Wind auf meinem Gesicht und lausche den Wellen und dem tiefen Brummen der Motoren.

Neben mir stand eine Frau im roten Mantel und lächelte vor sich hin. Sie war mir schon früher aufgefallen, weil sie sehr attraktiv ist. Trotzdem – Menschen, die so früh am Morgen heiter sind, machen mich skeptisch. Unruhig scharrte ich mit meinen Füssen. Ich überlegte mir, ob ich mich irgendwo anders hinstellen sollte, aber vorne waren die Raucher und der beißende Nikotingeruch störte mich noch mehr als eine lächelnde Frau. Sie hatte eine Thermoskanne dabei und schraubte den Deckel ab.
„Möchten Sie vielleicht auch etwas Tee?“
Ich schätzte sie ab. Sie war Mitte vierzig und wirkte sehr sympathisch.
„Es ist marokkanische Minze. Sie stammt aus dem Urlaub. Hier nehmen Sie, ich habe noch nicht daraus getrunken. Und ich habe noch einen weiteren Becher dabei – für alle Fälle.“
Eigentlich möchte ich nichts von Leuten annehmen, die ich nicht kenne. Das schafft Berührungsstellen. Und schlimmer noch – Verbindlichkeiten. Man sieht sich plötzlich genötigt, mit dieser Person jeden Morgen Höflichkeiten oder andere Dinge auszutauschen. Eine entsetzliche Vorstellung. Sie bemerkte mein Zögern und sie ging behutsam mit mir um, verabreichte mir ihre Wörter und Sätze in kleinen Dosen. Ich klappte mir den grauen Mantelkragen hoch und brummte etwas. Und aus irgendeinem Grund nahm ich den angebotenen Tee an.

„Mögen Sie das auch so?“ begann sie und ich nickte obwohl sie noch gar nichts gesagt hatte, „Wenn der See so daliegt wie ein stahlgrauer Spiegel und das Fährschiff ihm das Gesicht zerschneidet? Die Wunde bäumt sich auf, zernarbt und zerfällt nach kurzem Wogen wieder zu der selben, glatten Oberfläche wie zuvor. Keine Spuren mehr. Nichts bleibt.“
Ich fand ihre Worte zu pathetisch. Aber ja – im Grunde hatte sie Recht. Es ist immer wieder ein Schauspiel wie der See sich von allem heilt und wie sich jede Störung im Nichts auflöst.
„Wissen Sie wie lange ein Haar braucht, um einen Zentimeter zu wachsen? Ungefähr einen Monat. Aber die Ehre braucht wesentlich länger, um wieder hergestellt zu werden. Aber verzeihen Sie – ich langweile Sie natürlich.“
„Nein, gar nicht. Erzählen Sie nur weiter.“
„Es ist nicht meine Geschichte. Es ist eigentlich die Geschichte meiner Mutter. Sie starb vorigen Monat.“
„Mein Beileid.“
Sie dankte mir.

„Die Erinnerung ist eine Narbe, die sich eingraviert hat. Bedeutende Ereignisse hinterlassen tiefe Spuren, über die man von Zeit zu Zeit stolpert. Unebenheiten. Schrullen. Nichts bleibt fest in der fortwährenden Veränderung der Zeit. In meiner Erinnerung trug meine Mutter damals, an jenem unseligen Tag, ein rotes Kleid. Aber als wir letzte Woche ihre Sachen aussortierten, stellte ich fest, dass es rosa war, mit einem feinen roten Blümchenmuster. Eigentlich viel zu zart für meine Mutter – so wie ich sie in der Erinnerung bewahre.“
„Ja das kenne ich,“ bemerkte ich, genötigt auch einmal etwas zu sagen, „die Personen in der Erinnerung führen ein Eigenleben. Erinnerung ist nichts Starres. Sie verändert sich, der Ablauf der Episoden ändert sich. Ein Film, den ich zum zweiten Mal ansehe, ist plötzlich anders als beim ersten Mal. In einem Buch lese ich ganz Neues, Kühnes, Ungeheuerliches – Dinge, die mir beim ersten Mal ganz entgangen sind.“
Sie betrachtete mich nachsichtig und trank einen Schluck Pfefferminztee, dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort.
„Alles passierte, weil die Hauptbrücke unserer Stadt saniert werden musste und dafür gesperrt wurde. Der gesamte Verkehr wurde umgeleitet. Auch wir mussten einen Umweg machen und wir konnten nicht mehr zurück.“
„Ein Zurückgehen ist eigentlich immer ein Vorwärtsgehen“, warf ich nachdenklich ein und sie nickte zustimmend.
„Unser Haus stand direkt neben dem Fluss, der die Stadt in zwei Hälften teilte. Über die Hauptbrücke aus dem vorigen Jahrhundert quetschte sich Tag für Tag ein nie enden wollender Verkehrsstrom. Es war laut und staubig, was meinen Vater immer sehr störte. Er war Beamter und ein sehr gewissenhafter Mensch. Er las gerne und liebte nichts mehr als die Stille. Meine Mutter war das Gegenteil von ihm. Sie war wie die Stadt: jung, laut, erdig und strotzend vor Lebenslust.

Irgendwann kam also ein Ingenieur und führte allerlei Messungen an der Brücke durch. Am Ende seiner Untersuchungen stellte er nüchtern fest, dass die Brücke nicht mehr sicher wäre und unbedingt erneuert werden musste, wenn man eine Katastrophe verhindern wollte. Der Bürgermeister fragte, was das für die Stadt bedeuten würde und der Ingenieur legte ihm einen beachtlichen Kostenvoranschlag vor, der dem Bürgermeister dann schlaflose Nächte bescherte.
Der Beginn der Bauarbeiten hatte für uns weitreichende Folgen. Er brachte unseren gesamten Tagesablauf durcheinander. Sowohl der Arbeitsplatz meines Vaters als auch die Schule und andere wichtige Einrichtungen lagen genau auf der anderen Seite des Flusses. Die eingespielte Routine kam bei uns völlig durcheinander. Früher war Mama als erste aufgestanden, hatte Papa das Frühstück gemacht und ihn zur Bushaltestelle auf der anderen Seite der Brücke begleitet, um auf dem Rückweg bei der Bäckerei frisches Brot für uns Kinder zu kaufen. Wenn sie wieder Zuhause war, hat sie uns geweckt, zugesehen, wie wir uns fertigmachten und war dann mit uns zur Schule gegangen. Dafür musste sie nochmals die Brücke überqueren.
Jetzt musste die ganze Familie gleichzeitig aufstehen. Das bedeutete, dass alle gleichzeitig die Toilette und das Bad benutzen wollten und auch alle gleichzeitig frühstücken wollten. Wir Kinder waren mürrisch und streitsüchtig, weil wir es nicht gewohnt waren, so früh aufzustehen und maulten, weil es kein frisches Brot mehr gab. Dazu trödelten wir herum und Vater war übellaunig, weil er sich durch unser Gezänk in seiner gewohnten Ruhe gestört fühlte. Mama begleitete ihn natürlich nicht mehr bis zur Bushaltestelle, weil sie mit uns Kindern nun fast eine Stunde für den Schulweg brauchte und durch schmutzige Viertel mit üblem Ruf gehen musste. Auf dem Rückweg schleppte sie die Einkaufstüten mit den benötigten Lebensmitteln durch die halbe Stadt, weil auch der Supermarkt jenseits des Flusses stand. Es fehlte ihr die Zeit für die Erledigung der vormittäglichen Verrichtungen im Haushalt und sie musste sie am Nachmittag nachholen. Dafür fiel der sonst übliche Kaffeeklatsch mit ihrer Schwester und den Nachbarinnen flach. Dann musste sie uns Kinder wieder von der Schule abholen und in der Zwischenzeit brannte ihr das Abendessen an.

Nach drei Tagen saß meine Mutter am Küchentisch und weinte vor Verzweiflung und Wut. Es war, als wäre ihr ganzes Leben aus den Fugen geraten. Doch die Einzelteile, die wie Trümmer um sie herumlagen, ordneten sich neu und es entstand wieder ein Ganzes. Das begann damit, dass Papa anfing, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Dadurch konnte er am Morgen noch etwas liegen bleiben und warten, bis Mama mit uns Kindern aus dem Haus war. Wenn es dann ganz still geworden war, stand er auf und genoss die Ruhe.

Meine Mutter ging nicht mehr im alten Lebensmittelgeschäft einkaufen, weil sie keine Lust mehr hatte, die Einkäufe quer durch die ganze Stadt zu schleppen. Sie entdeckte in dem schlechten Viertel, das sie anfangs so hasste, ein kleines Geschäft, das auf engstem Raum alles bot, was sie brauchte und das obendrein noch hausgemachte Mahlzeiten verkaufte – damals eine Sensation. Der Laden wurde als Familienbetrieb geführt und verhalf den Inhabern zu einem bescheidenen Wohlstand.

An den Donnerstagen aßen wir Kinder nun bei unserer Tante zu Mittag, weil wir am Nachmittag Sportunterricht hatten. Unsere Mutter kam uns erst am Abend abholen. In der neu entstanden Lücke im Ablauf ihres Tages half sie im Laden aus, indem sie den Arbeitern von der Brücke das Essen lieferte. Meistens trank sie dann mit dem Ingenieur noch einen Kaffee. Und wenn sie ihn fragte, wie lange es noch dauern würde, gab er jedes Mal zur Antwort, dass es wohl noch zwei Monate brauchen würde.

Den Ladeninhabern war das recht. Für sie war es ein einträgliches Geschäft geworden. Neben den Mahlzeiten kauften die Bauarbeiter regelmäßig alles ein, was sie täglich brauchten, dazugehörten vor allem Kaffee und Zigaretten und am Abend ein paar Kisten Bier.

Unsere mittlerweile wiedergefundene Ordnung wurde jäh gestört, als ich mich im Sportunterricht verletzte. Während des Volleyball-Spiels stieß ich mit einer meiner Freundinnen so unglücklich zusammen, dass ich mir die Schulter ausrenkte. Meine Lehrerin telefonierte umgehend meine Mutter an. Aber als sie sie nicht erreichte, telefonierte sie meinem Vater, der missmutig seine Arbeit niederlegte, sich auf sein Fahrrad schwang und mich dann schnellstmöglich ins Krankenhaus bringen musste.

Als wir nach Hause kamen, waren wir sehr überrascht, Mama anzutreffen. Sie war ein wenig zerzaust und zupfte sich verlegen das rosa Kleid zurecht, das in meiner Erinnerung immer rot sein sollte und das sie nach diesem Tag niemals mehr anziehen sollte. In der Küche war der Kaffeetisch gedeckt, aber statt der üblichen Frauenrunde saß der Ingenieur mit gequälter Miene vor einer halbvollen Tasse Kaffee, die schon kalt geworden war. Vater fragte ihn betont unterkühlt, wie lange der Bau noch dauern würde. Zwei Monate, sagte der Ingenieur ohne ihn anzusehen und verschwand dann schnell.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter schön war. Sie war sicherlich reizvoll mit ihrem dicken, schwarzen Haar, das in der Sonne glänzte. Sie hatte für meinen Geschmack zu üppige Hüften, die durch ihren auffallenden, wiegenden Gang auch noch betont wurden.

‚Wo warst du?‘ fragte mein Vater und seine Stimme klang müde und gereizt.
‚Einkaufen und den Arbeitern das Essen bringen‘, antwortete meine Mutter. Es hätte unverbindlich und gleichgültig klingen sollen, wäre nicht dieses leise Zittern gewesen.
Mein Vater sagte nichts mehr und meine Mutter auch nicht. Doch in der Nacht, als sie meinten, wir würden schlafen, hörten wir meinen Vater brüllen. Meine Mutter schrie und kreischte. Wir vernahmen wie Geschirr zu Bruch ging und Stühle umfielen. Ich hatte Angst um Mama und vergrub mich unter der Bettdecke. Mein kleiner Bruder kroch zu mir ins Bett. Wir drückten uns aneinander und weil uns nichts Besseres einfiel, zählten wir. Als wir bei hundert ankamen, begannen wir von vorne. Das Schreien meiner Mutter ging allmählich in ein leises Wimmern über. Da wussten wir, dass es bald überstanden sein würde.
Am nächsten Morgen trug meine Mutter einen langen Rock und einen Pullover, obwohl es unerträglich heiß war. Ihren Kopf versteckte sie unter einem Kopftuch, ein bisschen wie ein Turban. Ab diesem Tag gingen wir allein zur Schule. Unsere Mutter begleitete uns nicht mehr. Sie verließ kaum mehr das Haus. Selbst einkaufen ging sie nicht mehr. Sie schickte uns wieder in den alten Supermarkt auf der anderen Seite des Flusses.

Nach zwei Monaten war die Brücke wirklich fertig. Es gab ein großes Fest und der Bürgermeister gratulierte dem Ingenieur. Die Bauarbeiter zogen ab und der Verkehr nahm wieder seinen gewohnten Weg über die Brücke, die breiter geworden war und mehr aufnehmen konnte. Wir Kinder konnten nun wieder länger schlafen und Vater genoss die Stille am Morgen. Es hätte eigentlich alles wieder wie vorher sein können, aber das war es nicht. Und nicht nur, weil wir nun allein über die breiten Gehsteige der Brücke in die Schule gingen, vorbei an der Bushaltestelle und der Bäckerei. Mama’s Haare wuchsen wieder nach, aber sie legte den Turban trotzdem nie mehr ab. Und sie lachte auch nicht mehr so laut und so ungestüm.
Mein Eltern ließen sich erst viele Jahre später scheiden, als wir Kinder schon groß waren.“

Ihre Erzählung endete kurz bevor die Fähre anlegte. Wir standen stumm und schauten den Arbeitern zu, deren Handgriffe hundertfach erprobt und eingeübt waren. Dementsprechend reibungslos lief alles ab. Wir gingen zu unseren Fahrzeugen und winkten uns zum Abschied zu. Dann fuhren wir los und verloren uns sofort aus den Augen.

Ich sah die Frau nie wieder, so sehnlich ich sie am nächsten Tag und auch an den folgenden Tagen auf dem Schiff erwartete. Ich musste einsehen, dass Menschen keinen strikten Fahrplan haben wie Fähren. Dass Menschen zwar Gewohnheiten annehmen und für eine Zeit regelmäßig ausführen, aber dass sie diese dann auch wieder aufgeben und dafür neue Gewohnheiten annehmen. Hätte ich mich nicht darauf verlassen, die Frau auf der Fähre wieder zu sehen oder hätte ich den Mut gehabt, ihr eine Verabredung abzuringen – wer weiß – es hätte vielleicht eine neue Gewohnheit entstehen könne, die ich vielleicht oder theoretisch oder möglicherweise sogar ein klein wenig Liebe genannt hätte.

2015-08-15