Der Königssohn

Es war einmal vor langer Zeit
da lebte ein König in einem Land sehr weit.
Er hatte Söhne, drei an der Zahl...

Der König liebte seinen ältesten Sohn vor allem wegen seiner Stärke und Unbesiegbarkeit, denn er war baumhoch und kraftstrotzend wie ein Bär. Seinen zweiten liebte er wegen seiner überragenden Klugheit, denn es gab kein Rätsel, das dieser Sohn nicht im Stande gewesen wäre, zu lösen. Diese beiden Söhne brachten großen Segen über das Land, da der erste auf Grund seiner Kraft vermochte, alle Feinde und Bedrohungen fernzuhalten und der zweite durch seine weisen Schiedssprüche alle Streitigkeiten zu schlichten, so dass in diesem Königreich ein goldenes Zeitalter voller Frieden und Wohlstand angebrochen schien.

Da geschah es eines Tages, dass eine heimtückische Krankheit über das Land kam. Ein schlimmer Dämon spie sie aus, weil ihm die Harmonie des Reiches ein Gräuel war und ihm wie ein Dorn in seinem Auge steckte. Die Krankheit verbreitete sich erbarmungslos und suchte die braven Menschen mit fürchterlichen Eiterbeulen und elenden Schmerzen heim. Kein Kraut, keine Salbe und kein Gift half. Das Ende bereitete nur der Tod. Das einst so friedliche und herrliche Land war wie ein schöner Laib Brot, der durch Schimmel zersetzt und verdorben wird. Auch vor dem Palast des Königs machte die Krankheit nicht Halt und so dauerte es nicht lange, bis der erste Sohn unter Qualen dahinsiechte. Nichts war von seiner einstigen Schönheit und Kraft geblieben, als er zum Skelett abgemagert endlich seinen Atem aushauchte. Der König war untröstlich und weinte viele Tage und Nächte um seinen starken, erstgeborenen Sohn, der ihm doch so viel Freude bereitet hatte. Sein Zweitgeborener floh ratlos und in höchster Verzweiflung in ein Kloster, hoch oben im Gebirge. Er verbrachte seine Tage stumm und still in Abgeschiedenheit, um über den Sinn dieses Unheils nachzudenken und zu meditieren, damit er sich und seinem Vater eines Tages eine Weisheit geben könnte, die sie trösten würde.

So blieb nur noch der dritte Sohn. Er war weder schön noch hässlich, weder stark noch schwach und hatte auch sonst keine besonderen Talente. Er stand bei seinem Vater und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Aber der Alte war verbittert, sein Herz war kalt und versteinert. Die Anwesenheit seines jüngsten Sohnes war ihm verhasst und machte ihn nur noch bitterer.
„Warum konnte sich diese nichtsnutzige Krankheit nicht dich aussuchen. Warum musste mein Ältester sterben, der doch für alle so ein Segen war? Warum konnte nicht statt seiner mein zu nichts nützender jüngster Sohn sterben. So hätte doch wenigstens dein Tod einen Sinn gehabt!“ rief der König unbeherrscht aus und schüttelte die Hand seines Jüngsten ab.

Dem dritten Sohn hatte es nichts ausgemacht, dass er im Schatten seiner beiden Brüder gestanden war. Im Gegenteil, während die beiden zum Wohle des Reiches lebten, kümmerte er sich in aller Stille um das Wohl seines Vaters. Er hatte dafür gesorgt, dass am Hofe Ordnung herrschte, dass die Gemächer beheizt wurden, die Lieblingsspeisen seines Vaters gekocht wurden, die edelsten Weine gelesen und gekeltert wurden und dass jederzeit die besten Pferde und Falken für die von seinem Vater so geliebte Jagd zur Verfügung standen. In dunklen und einsamen Stunden hatte er mit ihm Schach gespielt und heimlich verloren, damit sich sein Vater über seinen Sieg freuen konnte.

Der Vater schloss sich in seinen Gemächern ein und kümmerte sich um nichts mehr. Gekränkt wollte der Junge dem Land den Rücken kehren, doch dann sah er die Unordnung am Hofe, die Leichen, die unbegraben herumlagen und die Kranken, die unversorgt waren.

Die Jahre vergingen und die Krankheit war nur noch Erinnerung. Trotzdem kehrte der zweite Sohn nicht mehr zurück, denn er hatte immer noch keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Unglücks gefunden. Die Einsamkeit und Trauer des alten Königs drückte auf dessen hartes Herz und versteinerten ihn zunehmends. Er kümmerte sich längst um nichts mehr. Stattdessen saß er Tag ein, Tag aus in seiner dunklen Kammer und starrte vor sich hin.

Doch die Geschäfte wurden erledigt, das Reich regiert, Gerichte gehalten und Kriege gegen die Feinde geführt. Es war der jüngste Sohn des Königs der alle diese Aufgaben wahrnahm. Er war nicht der Stärkste und er war auch nicht der Klügste. Aber er tat, für was er geboren worden war und aus ihm wurde ein weiser, starker und gerechter König. Er heiratete eine bezaubernde Prinzessin aus einem fernen Reich und wurde sehr glücklich mit ihr. Sie schenkte ihm vier Töchter.

Nach seinem Tod, gab seine älteste Tochter und Nachfolgerin den Auftrag, einen schon fast baufällig gewordenen und seit langem unbenutzten Teil des Palastes abzureißen. Da machte man eine seltsame Entdeckung. Man war in die Kammer eingedrungen, in die sich einst der Vater ihres Vaters in seiner Trauer zurückgezogen hatte und fand zu aller Überraschung einen völlig versteinerten Greis. Er war nicht tot, aber ausgehend von seinem harten Herzen hatte die Versteinerung den ganzen König erfasst und so war der König lebendig zu Stein geworden.