Das Rennen ist gelaufen

Das Rennen ist gelaufen. Vor Jahren schon. Damals nach dem Unfall. Damals als das Leben der Frau zu Ende ging und meines gleich mit. Seit damals dreht sich meine Uhr anders, ganz anders.

Ich beobachte wie sich ihr weißer, herrlicher Körper wie ein schlüpfender Schmetterling aus der Bettdecke windet. Ihre Haut ist weich und zart. Sie lacht ihr umwerfendes Lachen und albert mit mir herum. Sie neckt mich und sieht dabei so glücklich aus. Fröhlich schnappt sie sich ihren Bademantel und verschwindet durch die Tür. Ich bleibe allein zurück, in ihrem Bett, in ihrem Zimmer, in ihrer Studenten-WG. Das Zimmer ist im Dachgeschoss untergebracht. Ein liegendes Prisma, bestehend aus zwei Dreiecken und drei Vierecken, durchbohrt von einem schräg gemauerten Kamin. Der Rest der WG befindet sich einen Stock tiefer. Ihre Bücher hat sie auf dem Boden gestapelt, weil keine Regale an den schrägen Wänden aufgestellt werden können und ihre Kleider hängen an den Balken, die zum Teil so niedrig sind, dass ich aufpassen muss, mir nicht den Kopf zu stoßen.

Sie kommt nach einiger Zeit mit nassen Haaren zurück und springt zu mir ins Bett. Sie ist kalt wie ein Fisch, aber sie riecht gut. Sie küsst mich da und hier und ich bekomme nochmals Lust mit ihr zu schlafen. Aber sie muss los zu ihrem Nebenjob als Empfangsdame. Sie steckt sich die Haare hoch und zieht ein Kostüm an. Währenddessen redet sie davon, wie es wäre, sich treiben zu lassen, endlos Zeit zu haben, nicht mehr nach der Uhr zu leben. Zuletzt trägt sie Lippenstift auf und packt hektisch ein paar Sachen in ihre Handtasche. Wenn sie pünktlich sein will, muss sie sich jetzt sputen. Zum Abschied sagt sie mir, dass ich ruhig noch bleiben könne. Sie sagt sogar, so lange wie ich wolle.

Ich kann immer so lange bleiben wie ich möchte. Nichts wartet auf mich. Ich habe kein Ziel, muss nirgendwo sein, nirgendwo hin. Mein Rennen ist gelaufen. Seit damals, als das Leben der Frau zu Ende ging und meines gleich mit.

Früher hatte ich alles im Überfluss, außer Zeit. Ich hatte eine Menge Freunde, eine Menge Frauen und eine Menge Geld. Ich war mit Terminen zugepflastert und es gab Partys ohne Ende. Jetzt ist es umgekehrt. Alles ist rar geworden, nur die Zeit nicht. Zeit habe ich im Überfluss.

Ich stehe auf und suche meine Kleider zusammen. Es geht nicht mehr so schnell wie früher. Mein Bein fühlt sich steif an. Ich stehe vor ihrem Spiegel und ziehe mir den Pullover über die blanke Haut. Meine Narben haben sie nicht gestört. Normalerweise erregen sie viel Aufmerksamkeit, was dann endloses Fragen nach sich zieht. Fragen, die ich nicht beantworten mag. Nur weil ich mit jemandem schlafe, muss ich doch nicht gleich mein Innerstes ausbreiten. Körperliche Intimität und seelische Intimität sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die meisten Frauen wollen das nicht begreifen. Bei ihr ist es anders. Sie erwartet nichts von mir. Sie erwartet nichts von meiner Zukunft und sie will nichts von meiner Vergangenheit wissen. Sie will mir Zeit lassen.

Ich verlasse ihre Welt und kehre auf die Straße zurück. Der Verkehr brodelt. Autos schießen an mir vorbei. Eine alte Frau mit Krücken geht langsam über den Zebrastreifen. Sie hat gerade einmal die Mitte der Straße erreicht, als die Ampel wieder auf Rot umschaltet. Die Autos warten ungeduldig. Ein Fahrradfahrer mit zitronengelbem Helm prescht rechts an der Autoschlange vorbei und schafft es nur mit Mühe, der alten Dame auszuweichen. Eine Frau mit Schweißflecken im Trikot und Ohrstöpseln im Ohr läuft an mir vorbei. Der Briefträger hastet von Haus zu Haus und verteilt die Post. Er muss sich ranhalten, wenn er nicht bis spät abends unterwegs sein will. Selbst die Müllabfuhr hat es eilig.

Ich schlendere in den Park. Dort sitzen meistens ein paar Rentner herum und spielen Schach. Seit Carl dazugekommen ist, spielen sie auf Zeit. Er bringt seine Schachuhren mit, die ihnen vorgeben wie viel Zeit ihnen zusteht, um über den nächsten Zug nachzudenken. Carl meint, es gehe nicht anders, sonst könne man hier nicht spielen. Vor allem nicht mit Fritz, der stundenlang über das Spiel nachdenken kann und so viel Zeit habe er nicht. Sein Nachmittag sei nämlich verplant.

Fritz war Pfleger in einer psychiatrischen Anstalt gewesen, bevor er pensioniert wurde. Er hat dort viel gesehen und erlebt. Komisches, sehr Ernstes, Trauriges und erschreckend viel Wahres. Er meint, er wäre den Idioten, seinen Schützlingen also, über die Jahre immer ähnlicher geworden. Das passiere schon mal. Und jetzt könnte man ihn genauso in eine Irrenanstalt sperren. Fritz spricht immer von Irren, Schwachsinnigen und der Anstalt. Er nennt die Dinge beim Namen. Bei ihm ist ein Migrant ein Türk oder ein Jugo, er selbst ist ein alter Depp und ich ein Krüppel.

Wir sitzen nebeneinander auf der Parkbank und Fritz schnuppert an mir. Er hat eine feine Nase. Das ist sehr selten bei Leuten in seinem Alter. Bei den meisten hat man das Gefühl, sie würden gar nichts mehr riechen, denn anders ist es nicht erklärbar, wenn man den säuerlichen Mief alter Menschen wahrnimmt. Ich bin mir sicher, dass Fritz den Duft der Studentin erkannt hat und daher weiß, dass ich letzte Nacht mit ihr geschlafen habe.

Es sieht nach Regen aus und Carl packt sein Schachspiel mitsamt den Uhren zusammen. Er spielt nur bei Schönwetter. Bei Regenwetter macht er etwas anderes. Er hat für jedes Wetter seinen Zeitvertreib. „Merkwürdig“, sagt Fritz, der ihm nachdenklich zuschaut, „im Französischen gibt es für Wetter und Zeit genau das selbe Wort.“
„Ja, du Obergescheiter. Und im Spanischen auch“, kontert Carl und verabschiedet sich. Fritz sagt nichts mehr. Er denkt nach und scheint alles um sich herum zu vergessen.

In der Ferne ertönt das Martinshorn eines Rettungswagens. Der durchdringende Ton schwillt an, überschlägt sich beinahe und verebbt dann irgendwo in der Ferne wieder. Ich mag dieses Geräusch nicht und auch nicht das blaue, sich schnell drehende Licht. Es rührt an meine Geschichte, die ich mit mir herumschleppe. Seit damals, als die Frau starb. Die Last der Vergangenheit ist schwerer, als ich manchmal tragen kann. Die Erinnerung überfällt mich dann und wann blitzartig, wie der Stich eines Messers in den Rücken. Ich kann mich nicht wehren. Mein Körper zittert und das Bein verkrampft sich. Der Schmerz ist fast nicht auszuhalten. Ich weiß, dass es wieder vorbei geht, dass ich nur warten muss, aber es sind quälende Minuten, die zu Stunden werden, bitter und zäh wie Schmierseife.

Das Wetter kann sich nicht entscheiden und macht daher nichts. Es ist windstill, kein Blatt rührt sich und selbst die Vögel scheinen verstummt zu sein. Der Himmel ist mit reglosem Grau ausgepolstert. Ein paar schwarze Ameisen krabbeln auf den fleckigen Waschbetonplatten herum, die hier überall verlegt sind, damit das Gras nicht zertrampelt wird und sich braune Stellen bilden können, die sich bei Regen in Matsch verwandeln.

Ich betrachte Fritz, der ohne Unterbruch mit seinen Kiefern mahlt, während er angestrengt nachdenkt. Er erinnert mich an eine alte Mühle, die nicht aufhören kann zu mahlen, obwohl es längst kein Korn mehr gibt und die sich so nur selbst abwetzt und zerschleißt bis nichts mehr geht.

Ganz plötzlich steht Fritz auf und erklärt mir, dass es wirklich Regen geben werde. Vielleicht nicht gleich, nicht in der nächsten Stunde und nicht an diesem Tag. Aber vielleicht morgen oder spätestens nächste Woche. Vielleicht würde zuerst auch noch die Sonne herauskommen. Aber irgendwann, ja irgendwann, da komme ganz bestimmt der Regen und dann könne man froh sein, wenn es nicht auch noch hagle.

Fritz steht vor mir auf seinen wackligen, dünnen Beinchen. Sein Rücken ist gekrümmt. Er muss eine Weile ruhig stehen bleiben, bis der leichte Schwindel verfliegt, den das Aufstehen verursacht hat. Dann tastet er mit dem Stock voran und folgt mit schlurfenden Schritten. Er will nach Hause und ich soll mitkommen, denn wo soll ich ja sonst hingehen? Bleiben könne ich ja wohl nicht, denn der Regen werde kommen. Das stehe ja wohl fest.

Er wohnt in einem sehr kleinen Haus. Im Untergeschoss gibt es nur eine Küche, ein Wohnzimmer und eine Toilette. Alles ist durch einen Flur verbunden, der das Telefon und die Garderobe beherbergt. Er legt seine Schirmmütze ab und hängt das Jackett auf einen Kleiderbügel, stellt seine Schuhe schön nebeneinander und schlüpft in seine Pantoffeln. Er ist ordentlich. Nicht aus Prinzip, aber die Ordentlichkeit ist für ihn Orientierung und etwas, worauf er sich verlassen kann. Sie gibt ihm eine gewisse Sicherheit und das Gefühl, dass alles vorhersehbar, kontrollierbar und vor allem in Ordnung ist.

Die Küche ist dunkel. Das liegt einerseits am nussbraun gebeizten Täfer und andererseits daran, dass sehr wenig Licht durch das kleine Fenster dringt. Draußen sind zwei Tannen dermaßen in die Höhe geschossen, dass sie das kleine Haus nicht nur von allen Wetterwidrigkeiten abschirmen, sondern auch vom Sonnenlicht. Im Winter schützen sie vor übermäßiger Kälte und im Sommer vor der Hitze. Moos hat sich auf dem Dach gebildet und überzieht es mit einer smaragdgrünen Patina.

Fritz bietet mir einen Stuhl an und fragt, ob ich hungrig sei. Er selbst habe Hunger wie ein Bär. Und noch bevor ich antworten kann, holt er eine Dose Jägergulasch aus dem Küchenschrank, öffnet sie und schüttet sie in einen Topf. Er kratzt die hängen gebliebenen Fleischstückchen mit einem Blechlöffel heraus und steckt den Löffel in seinen faltigen, trockenen Mund. Wir warten bis das Gulasch heiß ist.

„Den größten Fehler, den du machen kannst, ist immer nur abzuwarten. Das Leben hat nichts übrig für Leute, die immer nur geduldig herumsitzen.“
„Das Leben hat auch nichts übrig für Ungeduldige, die immer zu schnell sind.“
Das eine ist Fritz‘ Geschichte, das andere meine. Wir kennen sie und sie haben nichts miteinander zu tun bis auf einen Schnittpunkt, der uns aneinanderschweißt wie siamesische Zwillinge.

Die Geschichte von Fritz ist im Wesentlichen die von ihm und seiner Frau Marianne. Eigentlich hat er sie gar nicht heiraten wollen. Eigentlich hat er eine ganz andere Frau geliebt: Hildegard. Es war Anfang der sechziger Jahre gewesen, als der Krieg schon ein bisschen vergessen war. Als man Roy Black und Peter Alexander hörte und ein paar ganz Verwegene schon die Beatles oder die Rolling Stones.

Aber wie schon gesagt, Hildegard sollte nicht seine Frau werden. Der Grund lag nicht etwa darin, dass sie seine Liebe nicht erwiderte oder andere Pläne hatte. Der Grund war, dass Marianne schwanger wurde. Er konnte nicht anders, als sie zu heiraten, obwohl er gerne anders gewollt hätte und er wurde sein Leben lang nicht glücklich mit dieser Entscheidung.

Kurz vor Weihnachten wurde Gerhard geboren und sie verbrachten die Feiertage bei den Schwiegereltern. Es lief harmonischer ab, als man meinen konnte, auch wenn es die eine oder andere Störung gab. Er schickte sich breitwillig in die Rolle des Vaters und stellte nie die Frage, ob Gerhard wirklich sein Sohn war. Die Zeit plätscherte dahin an der Seite seiner ungeliebten Ehefrau und er sagte sich, dass es eines Tages besser würde, dass es einen Sinn habe und er schon lernen würde, sie zu lieben. Sie hätten ja noch viel Zeit.

Gerhard wuchs heran und irgendwann wurde er zu groß für das kleine Haus und zog hinaus in die Welt. Zuerst in die USA, dann nach Singapur und Hongkong, wo er Manager in einem Luxushotel wurde. Fritz und Marianne blieben allein zurück und er stellte fest, dass nichts von dem eingetroffen war, was er sich erhofft hatte, dass er sich weder an sie gewöhnen können hatte noch sie lieben gelernt hatte. Es war erschreckend eintönig geworden im Haus. Der Rhythmus der Tage war vorhersehbar. Den längst fälligen Urlaub verschoben sie von Jahr zu Jahr, weil sie sich ohnehin nicht einigen konnten und weil sie auch Angst davor hatten, zusammen zu verreisen. Sie verschoben ihn so lange bis sie nicht mehr daran dachten. Leise mischten sich graue Fäden in ihr Haar und breiteten sich zu ganzen Flächen aus. Seine Haut wurde faltig und Marianne wurde immer dicker, bis sie ihn an eine Robbe erinnerte. Er redete nicht mehr mit ihr, denn er dachte, wenn er nicht mehr mit ihr reden würde, dann würden sie sich auch nicht mehr streiten.

Fritz wurde pensioniert. Sie behielten stillschweigend ihre tägliche Routine bei und gingen sich so gut es ging aus dem Weg. Am Morgen, während er sich rasierte und die Zähne putzte, richtete sie das Frühstück. Dann saßen sie sich schweigend gegenüber und aßen ihre Marmeladebrötchen. Fritz schlug die Zeitung auf, um Marianne nicht ansehen zu müssen und las sie von Anfang bis Ende ganz durch. Danach machte er einen Spaziergang in den Park und setzte sich etwas abseits von den anderen Rentnern, denn sie waren ihm entschieden zu alt. Er beobachtete die Vögel und die jungen Mütter, die ihre Kinderwägen an ihm vorbeischoben und unglücklich und übernächtig aussahen. Pünktlich um zwölf kehrte er zum Mittagessen zurück und legte sich anschließend für ein ausgedehntes Schläfchen hin.

Es war ein Tag gewesen, wie jeder andere. Und er begann wie jeder andere. Es wäre zu erwarten gewesen, dass nichts Aufregendes passieren würde. Marianne zog wie immer ihren grauen Staubmantel an und band sich ein buntes Halstuch um. Dann ging sie einkaufen. Zum letzten Mal.

Ich war gerade zurück aus Indianapolis, wo ich ein Rennen bestritten hatte und wo ich enttäuschter Vierter geworden war. Meine damalige Freundin, mit der ich unvorsichtigerweise vor einem halben Jahr zusammengezogen war, drohte mir mit dem Rauswurf, weshalb ich im Hotel wohnte.

Rennen zu fahren, war alles was ich wollte. Schon seit ich ein kleiner Junge war. Ich liebte die Geschwindigkeit. Ich liebte es schnell zu sein und Grenzen zu überschreiten. Ich liebte die Kraft, die ich dann spüren konnte und wie alles möglich werden konnte. Mein Leben fühlte sich manchmal an wie ein Traum. Dabei war ich so wach, wie ich es später nie mehr sein würde.

Ich legte mich in die Kurve und beschleunigte. Es ist ein grandioses Gefühl, zu spüren, wie das Motorrad hochkommt und einem die Zähne zeigt. Ich musste einem kleinen weißen Lieferwagen ausweichen, der unmittelbar vor mir bremste. Und da tauchte sie plötzlich auf. Eine schwere, schnaufende Frau, in einem grauen Mantel und buntem Halstuch, vollbeladen mit ihren Einkäufen. Der Lieferwagen hatte nur angehalten, um sie über den Zebrastreifen zu lassen.

Das Motorrad schrammt über sie hinweg und ihre Taschen platzten auf. Es regnete Eier, Äpfel und andere Lebensmittel während ich durch die Luft segelte - direkt in ein entgegenkommendes Auto hinein. Dann weiß ich für lange Zeit nichts mehr. Sie operierten mich unzählige Male. Das war notwendig, um mich Stück für Stück wie ein Mosaik wieder zusammenzusetzen. Daran schlossen sich lange Aufenthalte in der Reha an. Und dann folgten die Prozesse. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, sehe ich das endlose Warten in Gerichtsgebäuden und Krankenhausfluren. Mein Anwalt und mein behandelnder Arzt wurden zu meinen Bezugspersonen.

Ich verlor fast alles. Zuerst meine Freundin. Nicht weil sie mich verlassen hätte. Nein, ganz im Gegenteil. Ich war es, der sie in die Wüste schickte. Sie konnte mir das nie verzeihen. Alles hätte sie mir vergeben können, sogar meine zahllosen Affären, meine permanente Absenz, meinen Egoismus und auch meine Lügen. Aber dieses eiskalte Abservieren, gerade dann, als sie glaubte, dass ich ihre Hilfe am nötigsten hätte – das konnte sie nicht ertragen. Es war für sie die größte Demütigung, die ich ihr je zugefügt hatte.

Bevor sie ging, rächte sie sich, indem sie unsere gemeinsame Wohnung auflöste und alles mitnahm, was sie konnte. Ich musste mir ein Zimmer in einer schäbigen Pension nehmen, als ich von meinem mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt zurückkehrte. Vom Gericht wurde ich wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Einer Gefängnisstrafe entging ich, aber die Schadenersatzforderungen, die Kosten für Gericht und Anwalt fraßen alles auf, was mir noch geblieben war. Zuletzt war ich völlig mittellos.

Das Rennen war nun endgültig für mich gelaufen. Ich bekam keinen Fuß mehr in die Tür. Ein Sturz oder ein Unfall während des Rennens oder des Trainings ist Berufsrisiko. Aber während einer privaten Fahrt ein Verbrechen und jede Versicherung verabschiedet sich ohne große Gesten.

Die Presse stürzte sich auf mich, auf den Unglücksraben, den Gestrauchelten, den am Boden liegenden und ich tauchte sofort unter. Seitdem ist es ruhig um mich geworden. Man wird schnell vergessen und das ist nicht das Schlechteste.

Ich sitze mit Fritz in der Küche. Das Gulasch haben wir aufgegessen und ich habe Sodbrennen. Fritz schenkt Schnaps ein und ich weiß wie es enden wird: Wir werden völlig betrunken sein und er wird mich rauswerfen. Seine Kiefer mahlen nicht mehr so stark, dafür redet er mehr. Irgendwann wird er mir Vorwürfe machen. Die meisten werden damit beginnen, dass ich ja eigentlich gar nichts dafür könne. Aber das macht es nicht besser. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Das weiß ich sicher, denn ich habe es schon versucht. Einmal, als ich sturzbetrunken war, bin ich am Bahnhof die Metallstreben hochgeklettert, habe die Scheibe von der großen Bahnhofsuhr eingeschlagen und an den Zeigern gedreht bis sie abgefallen sind. Irgendwann hat mich irgendwer heruntergeholt und ich habe die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht. Es gab erneut eine Anzeige, erneut einen Gerichtstermin, erneut ein Gutachten, erneut ein Urteil. Ich wurde freigesprochen vom Vorwurf der Sachbeschädigung, aufgrund des Alkoholpegels und einer diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung.

Die Studentin mit der schönen weißen Haut möchte mich wiedersehen. Sie hat mir einen Ort und eine Uhrzeit genannt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffe. Ich trage seit damals keine Uhr mehr. Denn die Uhr betrügt mich. Sie gibt vor, als würde sich alles vorwärtsbewegen in der Zeit. Aber das tut es nicht. Ich bin wie gefangen in einer Zeitschleife, im Fegefeuer, in einem Alptraum, bei dem alles immer wieder von vorne anfängt. Dann sitze ich auf meinem Motorrad, schwinge lässig aus der Kurve heraus, überhole fröhlich einen kleinen weißen Lieferwagen und pralle gegen eine Robbe mit falscher Halskrause, die mit Äpfeln und Eiern auf einem Zebrafell jongliert. Das ist der Anfang. Das ist das Ende.

2015-07-22